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Sonstiges
28.12.2019

Vom Bleistiftstrich bis zum fertigen Rennwagen

„Ich konnte den Sportwagen meiner Träume nicht finden, also habe ich ihn selbst gebaut.“ – So wird der Porsche Gründer, Ferdinand Porsche, heute immer wieder zitiert. Es ist ein Traum, den viele haben. Doch um diesen verwirklichen zu können, benötigt es mehr als nur einen Traum. Der Bau eines eigenen Rennwagens benötigt Wissen, Zeit und vor allem eines: Leidenschaft. Was mit einem einfachen Gedanken und einem ersten Bleistiftstrich beginnt, wird am Ende ein Großprojekt.

Mittlerweile gibt es überall Kundensportwagen, die einfach erworben werden können. Während es früher noch viele Chassishersteller in den verschiedenen Rennserien gab, ist es heute so, dass viele Rennbegeisterte nur einen einfachen Anruf tätigen müssen, um wenige Wochen später einen brandneuen Audi R8 LMS GT3 oder einen Mercedes-AMG GT3 in der Garage stehen zu haben. Einsatzbereit versteht sich. Doch nicht jeder gibt sich mit dieser einfachen Variante zufrieden. 

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Einer davon ist ByKolles Racing Teameigner Colin Kolles. „Colin wollte schon immer seinen eigenen Rennwagen haben“, erzählt Boris Bermes, Einsatzleiter von ByKolles Racing, der Motorsport XL wertvolle Blicke hinter die Kulissen einer Rennwagen-Entwicklung gewährt hat. „Es ist die Faszination vom eigenen Sportwagen, die ihn verfolgt. Die Liebe, sein eigenes Auto zu haben und nicht mit dem vorgegeben Kundenauto fahren zu müssen.“ 

Colin Kolles ist in den Fahrerlagern sämtlicher Rennserien kein unbekannter Name. Der 51-Jährige hat in seiner Karriere schon einige Stationen durchlaufen. Sei es das eigene Formel-3- oder DTM-Team oder seine Zeit als Teamchef von Jordan GP, Midland F1, Force India sowie Hispania Racing in der Formel 1 zwischen den Jahren 2005 und 2011. Dass ein Motorsportler wie Colin Kolles früher oder später eine neue Herausforderung sucht, war klar. Diese fand er mit der Entwicklung eines eigenen Rennwagens – konzipiert für die 24 Stunden von Le Mans und die FIA World Endurance Championship (WEC). Was alles hinter der Entwicklung eines Rennwagens steckt, haben wir genauer recherchiert.


Vom Erstgedanken bis zum fertigen, virtuellen Rennwagen

Der erste Gedanke, der erste Traum muss erstmal formuliert werden, ehe man sich Seinesgleichen sucht, die einen nicht komplett für verrückt halten. Wichtig sind vor allem aber auch die Rahmenbedingungen. Wo setzt man eine Eigenentwicklung überhaupt ein? Nicht alle Rennserien sind dafür gedacht. „Man muss sich viel mit den unterschiedlichen Reglements beschäftigen“, erklärt Boris Bermes. Eine Rennserie gibt vor, was entwickelt werden darf und was nicht. Welche Spielräume dabei eingehalten werden müssen. „Für Colin – und das ganze Team – war es wichtig, dass wir uns in einer Rennserie auf einem Top-Level bewegen.“ Im Team wurde diskutiert und selektiert: „Die Formel 1 ist natürlich interessant, aber sehr speziell. In den anderen Formelserien ist mittlerweile vieles vereinheitlicht. Früher gab es unterschiedliche Chassis-Hersteller; heute sind das alles Einheitsserien.“ Im Team ByKolles Racing hat man sich für das Segment Sportwagen entschieden. Weiter noch: Für die Entwicklung eines eigenen LMP1-Rennfahrzeugs für die 24 Stunden von Le Mans und FIA WEC.

Mit dem Reglement steht auch das erste, grobe Konzept bevor es mit Schritt zwei – Designentwurf – weitergeht. Im Team wird an diesem Punkt mit den Experten diskutiert: Welche Komponenten werden verwendet? Welcher Motor, welches Getriebe macht Sinn und welche Elektronik ist von Nöten? „Eigentlich nichts anderes, als was die großen Hersteller nicht auch tun“, so Bermes. „Danach erst fangen wir mit der Konstruktion des Fahrzeugs virtuell an.“ Sprich: Am Computer. Parallel dazu laufen Aerodynamikprogramme, sowie die Entwicklung des Fahrwerks und Simulation. Nach Abschluss dieser Phase ist das Konzept finalisiert. „Erst wenn man das fertig hat, hat man das Auto grob in der Theorie im Computer stehen und dann geht es weiter im Design. Erst dann werden die einzelnen Komponenten genauer konstruiert.“ Der virtuelle Rennwagen steht.


Detaillierte Ausarbeitung und Fremdbezug 

Mit dem groben Konzept beginnen die verschiedenen Abteilungen, detaillierter in die einzelnen Bereiche zu gehen. Dabei arbeiten die unterschiedlichen Experten Hand in Hand. Oftmals überschneiden sich die Aufgabenbereiche auch. „Das Ganze ist immer ein Hin und Her zwischen Design und Aerodynamik. Immer wieder muss dort aufeinander reagiert werden. Beispielsweise die Auslegung des Kühlsystems das ist ein Zusammenspiel zwischen Konstruktionsbüro und Aerodynamik.“ 

Beim LMP-Rennwagen gibt es außerdem viele Komponenten, die im Vergleich zu einem Formel-Renner zusätzlich ins Spiel kommen. Die Lampen sind ein gutes Beispiel dafür. Diese werden im Langstreckensport benötigt für Nachtrennen. Das heißt zusätzliche Arbeitsschritte wie das Auslegen der Lampen und die entsprechende Stromversorgung fallen an. Kabelbäume müssen gezeichnet und erstellt werden. Und auch hier gibt es wieder Überschneidungen, deren Komplexität Einsatzleiter Bermes erklärt: „Die ganze Elektrik ist ein Zusammenspiel der Elektrikkomponenten von Motor, Chassis und Getriebesteuerung. Dazu gehören aber auch wiederum die ganzen vorgeschriebenen FIA Logger, die man dabei natürlich nicht übersehen darf.“ 

Wie auch die großen OEM-Hersteller verwendet ByKolles speziell Komponenten von Zulieferern der Motorsportindustrie. Einige Teile werden fremdbezogen. Preise werden diskutiert und Anforderungslisten verschickt. Lichttests werden durchgeführt, um den Lichtkegel festzulegen. Nach einer entsprechenden Auswertung kann das Teil dann fremdbestellt werden. „Das Gleiche passiert mit den Bremsanlagen. Man diskutiert mit den Zulieferern zusammen die Auslegung und fängt dann an, gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.“ Das Thema Kommunikation spielt eine ganz große Rolle. Das Team muss koordiniert werden und die einzelnen Abteilungen müssen über die Arbeitsschritte der Anderen informiert werden, damit das Zusammenspiel funktioniert. 

Dabei werden die Zuliefererteile integriert und angepasst. Gegebenenfalls wird nochmal umkonstruiert, bis alles passt. Ein weiteres Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Lieferanten und Eigenentwickler ist das Lenkrad. Das Lenkrad selbst wird im Hause von ByKolles Racing selbst konstruiert und gebaut – die elektrischen Komponenten dafür kommen vom Elektronikpartner.


Das Grundgerüst des Rennfahrzeugs – vom Chassis bis zum FIA Crashtest

Die Oberfläche des Rennfahrzeugs wird aufgeteilt in verschiedene Karosserieteile: Kotflügel, Motorhaube, Unterboden, Splitter usw. Diese Flächen wiederum werden zu Bauteilen konstruiert mit den entsprechenden Befestigungen. Außerdem kommt hinzu, dass für die Sonderfertigungen auch Werkzeug konstruiert werden muss, damit die Teile anschließend überhaupt erst produziert werden können. 

Das Grundgerüst des Rennwagens ist das sogenannte Monocoque – die Fahrerzelle, an die die vordere Karosserie mit Crashstruktur und Vorderachsaufhänung angebaut wird. An der Rückseite des Chassis ist der gesamte Antriebsstrang mit Motor, Kupplung, Getriebe und die Hinterachse sowie die Hintercrashstruktur und Heckflügel montiert. „Wir haben uns dafür erstmal ein Modell gebaut, bei dem wir die Vorgaben des FIA Reglements natürlich berücksichtigen mussten. Diese Vorgaben enthalten kleine Formen oder Volumen. Ich könnte auch sagen: Bauklötze. Diese geben vor, wie viel Platz zum Beispiel der Fahrer im Chassis einnimmt oder auch, wie viel Platz für die Sicht des Fahrers nach vorne und zur Seite vorgesehen ist.“ Das Tetrisspielen beginnt: Das ganze Paket an Bauklötzen muss im Chassis untergebracht werden. Genauso wie im Spiel: Möglichst sinnvoll und ohne dabei Platz zu verschwenden. Die Bauklötze sind aber nicht wie im Game rechteckig, sondern es ist weitaus komplizierter: Platz für den Ausstieg, Tank und Öffnungen für die Arbeiten am Auto müssen untergebracht werden. Befestigungen für mechanische Bauteile, Pedalerie, Fahrersitzt – all das muss berücksichtigt werden. 

Vorne dran kommt die Crashbox – Zu vergleichen mit der langen Nase im Formel-Fahrzeug, die beim Aufprall für den nötigen Schutz und die Sicherheit des Fahrers sorgt. Dieses Bauteil muss den FIA-Vorgaben entsprechen und beim vorherigen Crashtest bestehen. Ansonsten braucht das Team mit dem selbstgebauten Rennwagen gar nicht erst an den Start zu gehen. Bei diesem Crashtest wird das Bauteil statisch belastet, indem mit Druckstempeln draufgedrückt wird. Aber auch dynamische Tests, bei denen das Bauteil durch einen Schlitten gezogen an eine Wand gefahren wird, müssen überstanden werden. Die Verformungen dürfen dabei nur minimal sein und die abgebaute Energie ist ebenfalls fest vorgeschrieben. „Sprich: Es gibt eine Vorgabe der Verzögerung. Eine mittlere Beschleunigung.“ Diese Crashtests werden dabei vom Team nicht selbst durchgeführt, sondern in einem FIA- Institut. „Solche Tests werden beispielsweise in England oder Italien gemacht“, so Bermes.


Ein Rennfahrzeug in Tausend Puzzleteilen

Sind die Crashtests erledigt und die einzelnen Baugruppen soweit fertig, kommt die große Puzzle-Arbeit. Tausende Teile müssen aneinandergesteckt, verschraubt oder geklebt werden, um am Ende ein ganzes Rennauto vor sich stehen zu haben. Der Aufbau des Fahrzeugs beginnt. „Dieser wird auch nochmal in verschiedene Phase aufgegliedert“, erklärt der routinierte Einsatzleiter, der den gesamten Entwicklungsprozess von Anfang an begleitete. „Die eine Sache ist das Chassis. Dass das erstmal aufgebaut wird mit den fertigen Komponenten. Das wird bestückt. Anschließend kommt an das Ganze der Motor. Da dran die Kupplungsglocke mit Getriebe und Kupplung. Dann kommen die Achsen vorne, hinten.“ Finalisiert wird das große Ganze durch Elektrik und diverse, mechanische Teile wie Kühlsystem, Auspuffanlage, Tank oder Lenksäule. Und dann? Dann kann das Auto erstmals in Betrieb genommen werden!

Das Zusammenspiel von Getriebe, Motor, Chassis mit Elektronik wird geprüft. „Das bedarf natürlich eines großen Elektro- und Software-aufwandes. Viel Programmierung bedingt durch Steuergeräte, die harmonieren müssen.“ Alle Steuergeräte kommunizieren miteinander. Wird dies nicht gewährleistet, muss wieder umkonzipiert werden. Anschließend folgen die Bodywork-Teile: Verkleidungen, Heckflügel und dergleichen. Aber auch diese bilden mit den anderen Bauteilen wiederum eine Einheit. Denn die verstellbaren Spiegel oder auch die Startnummerfeldbeleuchtung muss einen Zugang zur Elektrik haben. Et voilá: Das Rennfahrzeug sieht so aus, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Doch komplett ist es noch lange nicht. Türen müssen rein, Scharniere werden mit Verschlüssen bestückt. Scheiben werden angebracht und dann gehts ans Fahrzeuginnere. Das Lenkrad muss den Anforderungen für den Rennbetrieb entsprechen. Es muss also noch ein Display eingebaut werden, das dem Fahrer Signale übersenden kann. „Flaggen der Streck-en-Marshalls werden da zum Beispiel angezeigt.“ Hightech pur: Auch eine Rückfahrkamera hat das Raumschiff, gebaut von ByKolles Racing. Sind all diese Dinge erledigt, geht es zum ersten Rollout: Der neue Renner erblickt das Licht der Welt und spult seinen ersten Meter auf dem Asphalt ab. Die Geburtsstunde. 


Mindestens 1,5 Jahre Entwicklung für einen LMP-Rennwagen

Betrachtet man all diese Schritte im Einzelnen wird klar, dass ein LMP-Rennwagen mal nicht eben schnell entwickelt und gebaut wird. Es bedarf vieler, kleiner Arbeitsschritte bis zur Vollendung. Boris Bermes gibt uns einen zeitlichen Überblick: „Wenn man rückwärts rechnet und sagt, dass der Tag des Rollouts Tag 0 ist und man von da aus rückwärts rechnet, dann würde das so aussehen: Ein Monat vor dem Rollout beginnt der Fahrzeugaufbau. Sämtliche Sicherheitstest vor dem Rollout sowie Produktion und Aufbau des Bodyworks liegen rund drei bis vier Monate vor dem eigentlichen Rollout. Mechanische Bauteile oder auch Teile, die von Zulieferern kommen, würde ich fünf Monate für dem ersten Rollout grob einkalkulieren. Wobei komplizierte Komponenten eine längere Lieferzeit haben. Radträger oder eine Felge beispielsweise. Da sollte man schon gute vier bis fünf Monate einkalkulieren. Konstruktion und Aerodynamik locker ein Jahr vorab. Wobei ich davon ausgehe, dass diverse Konzeptphasen und Studien vorangegangen sind. Alles in allem: Von der Idee bis zum fertigen Rennwagen sollte man mindestens eineinhalb Jahre planen.“

Das ByKolles Racing Team, das in Greding bei Ingolstadt ansässig ist, beschäftigt für die Entwicklung seines Rennwagens mehrere Experten. Knapp 50 Mitarbeiter sind an dem gesamten Prozess beteiligt. Darunter fallen das eigene Konstruktionsbüro, die Abteilung Aerodynamik, genauso wie die Elektrik-Fachspezialisten. Für den Motor kommen nochmal Ingenieure und Mechaniker des Motorlieferanten dazu. Abgerundet wird die Mannschaft durch die Abteilung Teilebeschaffung und Mechaniker, die für den Aufbau geplant sind. ByKolles setzt dabei auf das Zusammenspiel aus Erfahrung und neuen Ideen. Neben Experten mit langjähriger Motorsporterfahrung aus Formel 1, LMP, DTM und diversen Formelserien, arbeiten auch studentische Hilfskräfte im Team mit. „Wir haben immer wieder Studienarbeiten oder Projektarbeiten mit Universitäten. Das hilft uns dabei, alles aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und auch junge Talente zu fördern, um diese später ins Team zu holen.“ 

Die Entwicklung eines eigenen Rennwagens ist mehr als nur einen Traum zu haben. Es bedeutet, diesen Traum zu verwirklichen. Dabei geht es vor allem um Wissen, das zusammengetragen werden muss und den gemeinsamen Willen, das Projekt auszuführen. ByKolles Racing ist dies gelungen: Nach harten eineinhalb Jahren stand der fertige LMP1-Rennwagen vor den Toren Gredings. Bereit zum Renneinsatz.


Text: Jennifer Falkner
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