FIA WEC
23.11.2015
Die neue Nummer eins: Richard Lietz
„Auch wenn ich jetzt zu Hause einiges erklären muss – die Jungs hatten ihren Spaß, das war in diesem Moment das Wichtigste“, sagte Richard Lietz, der am 17. Dezember seinen 32. Geburtstag feiert. „Dieser Titel ist für uns alle der verdiente Lohn dafür, dass wir in dieser Saison auch nach Rückschlägen nie aufgehört haben zu kämpfen. Auch als wir in Le Mans auf einem Tiefpunkt waren, als uns viele schon abgeschrieben hatten, haben wir immer an uns geglaubt. Wie wir in der zweiten Saisonhälfte zurückgekommen sind, war grandios. Das geht nur mit so einem Team.“
Vier Rennen musste Richard Lietz auf seinen ersten Saisonsieg warten. Erst auf dem Nürburgring, der Hausstrecke des Porsche Team Manthey, ist der Knoten geplatzt. Mit seinem Erfolg auf dem Eifelkurs hat der Österreicher im August erstmals die Führung im FIA World Endurance Cup übernommen, der hart umkämpften Fahrerwertung in der Sportwagen-Weltmeisterschaft WEC. Bei den Überseerennen hat er sie dann nicht mehr aus der Hand gegeben.
„Er ist eine absolut sichere Bank, wenn es darum geht, auch unter schwierigsten Bedingungen konstant schnell zu sein und gute Ergebnisse einzufahren“, sagt Marco Ujhasi, Gesamtprojektleiter GT Werksmotorsport bei Porsche. Mit seiner für Beobachter wenig spektakulären, jedoch schnellen und extrem konstanten Fahrweise feierte Richard Lietz im Verlauf seiner Karriere in den verschiedensten Rennserien große Erfolge. Dabei hat nicht viel gefehlt, und er hätte sein Fahrtalent statt auf der Rundstrecke auf Rallyepisten entfaltet. Nur weil er einst mit 16 Jahren noch zu jung fürs Rallyefahren war, ist er in die Formel BMW eingestiegen. Dass er im Motorsport landen würde, war jedoch irgendwie logisch: Sein Opa Alfred ist mit einem Porsche 550 Spyder Bergrennen gefahren, Vater Christian war mit einem eigenen Team in der Österreichischen Rallye-Meisterschaft unterwegs. Auch sein Bruder Philipp, nach dem Bahrain-Rennen via Facebook einer der ersten Gratulanten zum Titelgewinn, ist begeisterter Motorsportler. Dass er seine Lebenspartnerin Heidi auf dem Hungaroring kennengelernt hat, passt ins Bild.
Es waren allerdings nicht nur die familiären Gene, die Richard Lietz zum Rennfahrer machten. Auch dass er fern aller Großstadt-Versuchungen in Ybbsitz aufgewachsen ist, einer 3500-Seelen-Gemeinde in der ländlichen Idylle des niederösterreichischen Mostviertels, hat sicherlich mit dazu beigetragen. „Die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung für junge Leute sind dort recht überschaubar“, sagt er. „Doch wir haben wunderschöne, naturbelassene Straßen, auf denen man das Autofahren noch genießen kann. Deshalb kommen viele Motorsportler aus unserer Gegend.“
Als Richard Lietz 2007 Porsche-Werksfahrer wurde, nachdem er in den Jahren davor im Carrera Cup und Supercup mit starken Leistungen auf sich aufmerksam gemacht hatte, ging für ihn ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Er war dankbar für das Vertrauen, das Porsche in ihn setzte und machte sich sofort daran, diesen Vertrauensvorschuss möglichst schnell zurück zu zahlen. Mit Erfolg: Erst gewann er bei den 24 Stunden von Le Mans die Klasse GT2, dann holte er den Gesamtsieg bei den International GT Open. Damit war er in kürzester Zeit angekommen im exklusiven Kreis der weltbesten GT-Piloten. Mit den Erfolgen stiegen die Erwartungen. Doch Richard Lietz, der vorzugsweise beim Klettern und Laufen Kraft und Kondition tankt, war immer weit davon entfernt, die Bodenhaftung zu verlieren. Im Gegenteil: Er ist keiner, der sich selbst zu wichtig nimmt, ein positiv denkender Mensch, der Fehler, wenn sie schon mal passieren, immer zuerst bei sich selbst sucht. Sein Teamkollege Michael Christensen, mit dem zusammen er in dieser Saison drei WEC-Rennen gewonnen hat, sagt: „Richard ist ein Freund und Teamkollege, wie man ihn sich nur wünschen kann.“
So ruhig Richard Lietz auf Außenstehende auch wirkt wirkt – wenn es nicht optimal läuft, kann er auch sehr emotional werden. Er ist jedenfalls keiner, der sich scheut, den Mund aufzumachen und Verantwortung zu übernehmen – nicht in erster Linie zu seinem Vorteil, sondern vor allem im Interesse der Sache. Das macht ihn zum absoluten Teamplayer. „Nur wenn das Umfeld stimmt“, sagt er, „kann jeder sein Bestes für den Erfolg geben.“ Beim Porsche Team Manthey ist das der Fall: „Mit diesen Jungs kannst du hinkommen, wohin du willst, da weiß jeder gleich, was zu tun ist. Es macht mich stolz, ein Teil dieses Teams zu sein.“
Der Österreicher ist ein Mann für alle Fälle – und für alle Rennserien: 2009 gewann er die Le Mans Series (Klasse GT2) und verteidigte diesen Titel im Jahr darauf erfolgreich. 2012 holte er seinen ersten von bisher zwei GT-Siegen beim 24-Stunden-Klassiker in Daytona, zwei weitere Klassensiege in Le Mans folgten 2013 und 2014. Als Porsche im Oktober 2015 mit dem ersten Gesamtsieg beim US-Klassiker Petit Le Mans ein historischer Erfolg gelang, gehörte er zum Sieger-Trio. Porsche-Motorsportchef Dr. Frank-Steffen Walliser schätzt an Richard Lietz seine Bodenständigkeit und sein analytisches Denken – und dass er nicht nur wegen seiner 183 Zentimeter Körpergröße immer über den Tellerrand hinausblickt: „Für ihn hört die Welt nicht am Ende der Boxengasse auf.“ Ihn freut nicht nur seine starke Leistung auf der Rennstrecke, sondern auch das große Vertrauen, das er bei seinen Teamkollegen genießt und wie er sich in die Porsche-Motorsportfamilie einbringt: „Wenn unsere Fahrer etwas optimiert haben wollen, dann kommt in der Regel Richard auf mich zu und wir beraten, wie wir es umsetzen können.“
Für viele junge Porsche-Piloten ist Richard Lietz ein Vorbild. Da auch er seinen fahrerischen Feinschliff in den Porsche-Markenpokalen erhalten hat, die sich einmal mehr als perfektes Sprungbrett für eine internationale Rennfahrerkarriere erwiesen haben, fällt die Identifikation besonders leicht. Das gilt auch für Michael Christensen. Wenn der sieben Jahre jüngere Däne über seinen Teamkollegen spricht, gerät er unweigerlich ins Schwärmen. „Von Richard kann ich sehr viel lernen“, sagt er. „Dank seiner großen Erfahrung weiß er genau, was es braucht, um erfolgreich zu sein. Er versteht es, das Team auf eine Linie einzuschwören, um geschlossen in eine Richtung zu arbeiten. Es ist faszinierend zu sehen, wie er das macht.“ Auch privat verstehen sich die beiden gut. Als er vor zwei Jahren nach Wien übersiedelte, hat ihm Richard Lietz mit nützlichen Tipps bei der Wohnungssuche geholfen. „Jetzt treffen wir uns ab und zu privat auf einen Kaffee“, sagt er. „Es macht einfach Spaß, mit Richard abzuhängen. Wir haben eine gute Zeit zusammen.“
Der Gewinn des FIA Endurance World Cup ist für Richard Lietz der bislang größte Erfolg seiner Karriere. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn das als Persönlichkeit verändert, tendiert gegen Null. „So einen Titel kannst du nur gewinnen, wenn du ein starkes Team hinter dir hast, das den Erfolg so sehr will wie du selbst“, sagt er. So sehr wie über seinen Titelgewinn freut er sich deshalb darüber, dass das Porsche Team Manthey in Bahrain die Teamwertung für sich entscheiden konnte. Einen Hauch von Wehmut verspürt er nur darüber, dass er nicht zusammen mit Michael Christensen als weltbester GT-Fahrer ausgezeichnet wurde. Schließlich hat er mit ihm seine drei Saisonsiege geholt. Doch weil der Däne parallel zum WEC-Rennen in Spa bei Porsche North America in der Tudor United SportsCar Championship aushelfen musste, hatte Richard Lietz am Ende einige Punkte mehr auf dem Konto als sein Teamkollege. „Doch auch wenn die Statistik etwas anderes sagt – vom Gefühl her habe ich den Titel zusammen mit Michael gewonnen.“
Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, die er 1998 im Kart begonnen hat und die über die Formel BMW, die Österreichische Rallye Challenge und die Formel 3 zu Porsche führte, hat Richard Lietz einige der bedeutendsten Sportwagenrennen der Welt gewonnen – und mit der WEC jetzt auch wieder eine hochklassig besetzte internationale Meisterschaft. Er lebt und liebt, was er tut. Wenn er den einen oder anderen Rennfahrerkollegen über Motivationsprobleme philosophieren hört, kann er nur den Kopf schütteln. „Ich muss mich vor einem Rennen nicht extra motivieren“, sagt er. „In einem Porsche zu sitzen und zu wissen, dass ich eine so traditionsreiche Marke auf der Rennstrecke repräsentieren darf, war für mich schon immer Motivation genug.“